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Leid auf Zeit: Wenn der Schmerz bleibt

Symbolbild eines Mannes der bei einer Lagertätigkeit unter chronischen Rückenschmerzen leidet
Verfasser/-in
Marie Krauß
Veröffentlicht
July 1, 2025

Im letzten Blogeintrag haben wir gesehen, wie akuter Schmerz als Warnsignal dient. Doch was passiert, wenn Schmerz bleibt, obwohl die ursprüngliche Ursache längst verschwunden ist?

Das Wort "chronisch" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet "zur Zeit gehörend", was sich wiederum aus dem altgriechischen "chronikus" für "zeitlich/lang" ableitet. In der Medizin bedeutet es, dass Symptome über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten bestehen. Aber bedeutet das auch, dass Schmerz für immer bleiben muss?

Chronischer Schmerz unterscheidet sich grundlegend von akutem Schmerz. Während akuter Schmerz eine direkte Reaktion auf eine Verletzung ist und nach der Heilung wieder verschwindet, kann chronischer Schmerz bestehen bleiben – selbst wenn keine erkennbare körperliche Ursache mehr vorhanden ist. Das liegt daran, dass sich das Nervensystem in einem dauerhaften Alarmzustand befindet. Dieser Zustand ist als eigenständige Erkrankung, als Schmerzsyndrom, anerkannt. Doch wie kommt es dazu?

Warum Schmerz mehr sein kann als eine Warnung

Schmerz ist weit mehr als nur eine körperliche Empfindung. Das Bio-Psycho-Soziale Schmerzmodell, entwickelt von George L. Engel, zeigt, dass Schmerz von mehreren Faktoren beeinflusst wird:

  • Biologisch: Verletzungen, Entzündungen, Nervenschädigungen oder genetische Prädispositionen.
  • Psychologisch: Stress, Ängste, Depressionen oder belastende Denkmuster.
  • Sozial: Arbeitsdruck, soziale Isolation, zwischenmenschliche Konflikte oder finanzielle Unsicherheit.

Jeder dieser Bereiche kann den Schmerz verstärken oder lindern. Beispielsweise kann Stress dazu führen, dass die körpereigenen Schmerzhemmungssysteme weniger effektiv arbeiten. Erinnerst du das an das Endocannabinoid-System? Unsere körpereigene Drogenfabrik arbeitet unter bestimmten Umständen besonders fleißig: Zum Beispiel wenn wir soziale Bindung erleben - und Oxytocin, das Bindungs- und Kuschelhormon, ausschütten.

Soziale Isolation kann das Schmerzempfinden wiederrum intensivieren, weil emotionale Unterstützung fehlt.

Hast du vielleicht auch schon mal bemerkt, dass dein Schmerz in stressigen Zeiten schlimmer wird? Dass du dich an schlechten Tagen bewegungseingeschränkter fühlst als an guten? All das zeigt, wie eng Schmerz mit deinem Leben verknüpft ist - und nein, es keine Einbildung

Die Utopie der idealen Schmerztherapie

Eine erfolgreiche Schmerztherapie sollte also alle drei Ebenen – biologisch, psychologisch und sozial – berücksichtigen. Doch das ist in der Praxis oft schwer umzusetzen. Warum?

  1. Medizinischer Fokus auf Medikamente
    • Viele Schmerzbehandlungen setzen vorrangig auf Medikamente, insbesondere Schmerzmittel. Doch diese bekämpfen oft nur das Symptom, nicht die zugrunde liegenden Ursachen.
  2. Mangel an interdisziplinären Ansätzen
    • Die beste Therapie wäre eine Kombination aus Physiotherapie, Psychotherapie, Schmerzmedikation und sozialer Unterstützung – doch solche integrativen Programme sind selten und schwer zugänglich.
  3. Zeitliche und finanzielle Einschränkungen
    • Viele Menschen haben weder die finanziellen Mittel noch die Zeit, regelmäßig Physiotherapie, psychologische Beratung oder alternative Methoden in Anspruch zu nehmen.
  4. Gesellschaftliche Erwartungen und innere Blockaden
    • Schmerzen zu haben, wird oft als Schwäche empfunden. Viele Betroffene „funktionieren“ weiter, anstatt sich eine ganzheitliche Behandlung zu suchen.

Das wirkliche Problem der Therapie von Schmerzerkrankungen ist nicht der Schmerz an sich, sondern dass das Gesundheitssystem in dem wir uns befinden der multimodalen Behandlung dies es bräuchte nicht gerecht wird, und vielleicht nie werden kann.

Auch unser Gesellschaftssystem, die Erwartungen die man an uns oder wir uns selbst stellen, macht es ebenso nicht leicht bleibende Schmerzen “ganzheitlich” zu behandeln.

Vielleicht kennst du ja auch das Gefühl, dass du dich trotz Schmerzen durch den Alltag kämpfen musst?

Umschulungskurs: Schmerzmanagement

Auch wenn die ideale Schmerztherapie schwer umsetzbar ist, bedeutet das nicht, dass du nichts tun kannst.

Ein erster Schritt ist, den Schmerz in seiner gesamten Komplexität zu verstehen. Es geht nicht nur darum, Medikamente zu nehmen oder Physiotherapie zu machen – sondern auch darum, deinen Körper, deine Gedanken und dein Umfeld aktiv in deinen Veränderungsprozess einzubeziehen. 

Ja, genau – Veränderungsprozess. Manche biologische Ursachen eines Schmerzes lassen sich nicht rückgängig machen. Degenerierte Bandscheiben oder arthrotische Facettengelenke in der Lendenwirbelsäule werden nicht wieder heile. Doch das Entscheidende ist, wie du und vor allem dein Nervensystem mit den daraus entstehenden Reizen umgehst – genau das ist die notwendige Veränderung.

Die Umschulung zur oder zum Schmerzmanager:in bedeutet, dass du lernst, den Schmerz aktiv zu beeinflussen, statt passiv darauf zu reagieren. Es bedeutet, zu erkennen, welche Faktoren deine Schmerzen verstärken und welche sie lindern können. Es bedeutet auch, neue Wege zu finden, mit Schmerz zu leben, ohne dass er dein Leben bestimmt.

Hast du schon einmal beobachtet, welchen Einfluss Entspannungstechniken oder sehr stressige Situationen, Bewegung oder langes Sitzen, soziale Kontakte – sei es zu wenig oder zu viel – oder auch kleine Veränderungen im Alltag auf deine Schmerzen haben? 

Diese bewusste Auseinandersetzung mit deinem Körper und deinem Schmerz kann der erste Schritt zu mehr Kontrolle und Lebensqualität sein.

Die Matrix ist allgegenwärtig

Es klingt fast nach Science-Fiction, aber unser Gehirn kann Schmerzen tatsächlich beeinflussen – und manchmal sogar verstärken.

Die kortikale Körpermatrix ist ein Konzept, das beschreibt, wie unser Gehirn Schmerz verarbeitet und durch äußere Reize verändert. Forschende (Sarah Wallwork, Lorimer Moseley et al. ) haben ein spannendes Experiment durchgeführt:

  • Personen mit Armschmerzen sahen ihren Arm durch eine Vergrößerungslinse – ihr Schmerzempfinden stieg.
  • Sahen sie den Arm durch eine Verkleinerungslinse, nahm der Schmerz ab.

Warum? Das Gehirn interpretiert den größeren Arm als schwerer verletzt und verstärkt die Schmerzsignale. Andersherum wirkt der verkleinerte Arm harmloser – und das Schmerzempfinden nimmt ab.

Das bedeutet: Unsere Wahrnehmung spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie stark wir Schmerz empfinden. Gibt es Situationen, in denen dein Schmerz schlimmer wird, wenn du dich darauf konzentrierst?

Was sind die Vergrößungs- und was die Verkleinerungslinsen in deinem Leben?

Schmerz unter der Vergrößerungslinse

Manche psychischen und sozialen Faktoren können Schmerzen intensivieren. Erkennst du dich in einigen dieser Punkte wieder?

  • Frühere belastende Erfahrungen: Kindheitstraumata, zu frühe Verantwortungsübernahme, Vernachlässigung, Gewalt- und Kriegserfahrungen sowie bereits zurückliegende Krankheitsgeschichten können die Schmerzverarbeitung langfristig beeinflussen.
  • Bereits gemachte, länger andauernde Stress- oder Schmerzerfahrungen: Psyche und Gehirn haben gelernt, wie aus akuten länger andauernde Schmerzen werden können.
  • Neigung zur Somatisierung: Körperliche Beschwerden, die nicht auf eine körperliche Ursache zurückzuführen sind.
  • Andauernder beruflicher Stress: Wenig Beeinflussbarkeit des Arbeitsplatzes, Angst vor Arbeitsplatzverlust oder Arbeitslosigkeit, Mobbing/Bossing sowie die Furcht vor der Rückkehr an den Arbeitsplatz können chronische Schmerzen verstärken.
  • Perfektionismus: Hohe innere Ansprüche, Durchhaltementalität, ständige Angst, Fehler zu machen, starkes Kontrollbedürfnis und Selbstzweifel führen zu dauerhaftem innerem Druck.
  • Negative Gedanken- und Gefühlslage sowie Passivität: Katastrophisierendes Denken („Das wird nie besser!“, „Ich bin diesem Schmerz ausgeliefert!“), Angst-Vermeidungs-Überzeugungen (z. B. Schonverhalten, um Schmerzen nicht zu verschlimmern), Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
  • Unterdrückendes Verhalten: Zu konsequentes Durchhalten, Ignorieren oder Verdrängen von Schmerzen und deren Auslösern, Meidung von Hilfesuche.
  • Sekundärer Krankheitsnutzen: Schmerz kann auch Vorteile bringen, etwa durch Aufmerksamkeit von anderen, eine berechtigte Möglichkeit des Rückzugs oder Selbstschutzmechanismen.
  • Überdiagnostizieren: Häufige ärztliche und therapeutische Konsultationen sowie eigene Fokussierung auf den negativen Gesundheitszustand können Ängste, Sorgen und Überforderung weiter verstärken.
  • Depressivität: Eine allgemeine gedrückte Stimmung, Verlust von Antrieb und Interessen können Schmerz verstärken und ihn schwerer bewältigbar machen.

Diese Faktoren können das Nervensystem weiter sensibilisieren und Schmerzen verstärken. Sie verdeutlichen auch, warum Schmerzerkrankungen oft sehr sinnvoll durch Psychotherapie begleitet werden können. Eine Kombination aus physischer, psychischer und sozialer Therapie kann helfen, den Schmerz langfristig zu beeinflussen und die Lebensqualität zu verbessern.

Schmerz unter der Verkleinerungslinse

Glücklicherweise gibt es auch Schutzfaktoren, die helfen können, Schmerzen besser zu bewältigen:

  • Unterstützende soziale Beziehungen: Familie, Freund:innen, Bekannte oder auch Selbsthilfegruppen, Sportgruppen usw. können dir helfen, den Schmerz besser zu bewältigen.
  • Psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz): Strapazierfähigkeit und psychische Elastizität tragen dazu bei, stressreiche Ereignisse erfolgreich zu bewältigen.
  • Positive Bewältigungsstrategien: Bewegung, Meditation und Atemtechniken können helfen, das Schmerzempfinden zu regulieren.
  • Glaube an die eigene Wirksamkeit: Die Überzeugung, selbst aktiv Einfluss auf den Schmerz nehmen zu können, ist ein entscheidender Faktor für die Schmerzbewältigung.
  • Förderliche Kindheitserfahrungen: Wer früh Selbstfürsorge erlernt und verlässliche Bezugspersonen hatte, kann häufig besser mit Herausforderungen umgehen.
  • Vertrauensvolle Beziehungen zu Ärzt:innen und Therapeut:innen: Eine wertschätzende und autonomie-fördernde Begleitung im Gesundheitswesen kann das Vertrauen in die eigene Genesung stärken.
  • Bereits gemachte Lebenserfahrungen mit erfolgreicher Bewältigung von Problemen: Wer in der Vergangenheit Schwierigkeiten gemeistert hat, kann diese Kompetenz auch in der Schmerzbewältigung nutzen.
  • Wille, Geduld und Ausdauer: Eine langfristige Auseinandersetzung mit verschiedenen Lösungsansätzen ist notwendig, um individuelle Strategien zu finden und umzusetzen.
  • Hilfesuche und Annahme von Unterstützung: Sich aktiv Hilfe zu suchen und anzunehmen – sei es durch professionelle Unterstützung oder Selbsthilfe – kann einen großen Unterschied machen.
  • Akzeptanz des jetzigen Zustands: Wer den aktuellen Schmerz als Ausgangspunkt für eigene Veränderungsprozesse akzeptieren kann, hat oft eine höhere Bereitschaft, aktiv zu werden.

Diese schützenden Faktoren können dein Kompass sein, das worauf du den Fokus in deinem Leben setzen möchtest, das was du anstrebst so oft wie möglich zu erleben. 

Hand auf’s Herz: Wie viel und wie gut, kannst du diese schützenden Prinzipien in deinem Leben umsetzen? 

Chronischer Schmerz: Kein schicksalhafter Epos

So bekannt uns der Begriff “chronisch” vorkommt, genauso verstaubt ist er - so wie ein toxischer Heldenepos der Geschichten von Blutrache und Ehre erzählt, indem dem Protagonisten irgendwie nie wirklich eine tiefgründige Charakterentwicklung möglich ist.

Diese Geschichten sind im Jahr 2025 den Göttern sei Dank erzählt, aber natürlich noch nicht vergessen. “Chronische Schmerzen” zu haben, löst in vielen Schmerzpatient:innen nicht selten Angst und Hoffnungslosigkeit aus.

Schmerzen sind aber dynamisch und beeinflussbar, weil unser Nervensystem sich verändern und umstrukturieren kann (Neuroplastizität). Der Begriff chronisch wird daher zunehmend durch Begriffe wie „anhaltende“ oder „persistierende“ Schmerzen ersetzt, um zu verdeutlichen, dass auch lang bestehende Schmerzen aktiv beeinflusst werden können.

Das moderne (um nicht zu sagen “woke”) Schmerzverständnis basiert auf folgenden Erkenntnissen:

  1. Schmerz ist nicht gleich Schaden:
    • Schmerzen können bestehen, ohne dass eine akute Verletzung oder Entzündung vorhanden ist.
    • Schmerzen können auch stärker empfunden werden, wenn die Nervenzellen sensibler geworden sind.
  2. Schmerz kann sich verselbstständigen:
    • Langanhaltende Schmerzen führen zu Veränderungen im Nervensystem (sogenannte zentrale Sensibilisierung).
    • Das bedeutet, dass Schmerzsignale im Rückenmark und Gehirn verstärkt und selbst bei harmlosen Reizen ausgelöst werden können.
    • Dadurch kann das Nervensystem in einen Dauer-Schmerzmodus schalten (chronischer/persistierender/ anhaltender Schmerz)
  3. Das Bio-Psycho-Soziale Schmerzmodell ist entscheidend:
    • Schmerzen entstehen nicht nur durch körperliche Prozesse, sondern auch durch psychologische (z. B. Stress, Angst) und soziale Faktoren (z. B. Isolation, Konflikte).
    • Ein überfordertes Nervensystem kann Schmerz als Alarmreaktion auf Umweltbelastungen verstärken.
  4. Schmerzen können beeinflusst werden:
    • Durch gezielte Bewegung, Schmerzbewältigungstraining, Stressreduktion und Veränderungen im Denken kann das Nervensystem „lernen“, Schmerz weniger intensiv wahrzunehmen.
    • Schützende Psychologische Faktoren (Resilienz, soziale Unterstützung, Selbstwirksamkeit und Bewältigungsstrategien)

Chronischer Schmerz ist kein unveränderbares Schicksal. Dein Nervensystem ist anpassungsfähig – das bedeutet, dass du mit den richtigen Strategien Einfluss darauf nehmen kannst.

Im nächsten Blogeintrag möchte ich dir Uwe vorstellen, seine Rückenschmerzgeschichte und wie er seine Umschulung zum Schmerzmanager begann. 

Bleib dran! 😊

Quellen:

- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF): Leitlinie Chronischer Schmerz

- Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. (2022): Patienteninformation Chronische Schmerzen

- Latremoliere, A., & Woolf, C. J. (2009). *Central sensitization: a generator of pain hypersensitivity by central neural plasticity*. The Journal of Pain, 10(9), 895-926. doi:10.1016/j.jpain.2009.06.012

 - Wallwork, S. B., et al. (2016). *Neural representations and the cortical body matrix: implications for sports medicine and future directions*. British Journal of Sports Medicine, 50(16), 990-6. doi:10.1136/bjsports-2015-095356 

- Bushnell, M. C., et al. (2013). *Cognitive and emotional control of pain and its disruption in chronic pain*. Nature Reviews Neuroscience, 14(7), 502-11. doi:10.1038/nrn3516

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