Gehörst du zu denjenigen, die regelmäßig Schmerz empfinden? Die gute Nachricht: Damit bist du nicht allein – im Gegenteil, du befindest dich in einer großen, vielfältigen Gemeinschaft. Viele Patient:innen sagen mir: „Ich will gar nicht so genau wissen, warum Schmerzen entstehen – ich will einfach, dass sie weg sind.“ Vielleicht geht es dir genauso. Aber: Wer versteht, wie Schmerz funktioniert, kann ihn gezielter beeinflussen – und damit besser leben.
Was macht die Marsili-Familie so besonders?
Stell dir vor, du würdest dir das Bein brechen – und nichts davon merken. Kein Schmerz, keine Schwellung, nichts, was dich davon abhalten würde, mehr oder eher weniger normal weiterzulaufen. Weiter noch: Verbrennungen, Schnittwunden – ohne Warnsignal. Unmöglich?
Die Marsili-Familie aus Italien hat eine seltene Genmutation, die Schmerzsignale stark abschwächt. Beispielhaft ist dies an einer Familienanekdote zu erklären: Als die sechsjährige Letizia Marsili beim Spielen an einem Mast hochkletterte, rammte sie sich einen herausstehenden Nagel in die Brust. Sie spürte keinen Schmerz, zog den Nagel einfach wieder heraus und spielte weiter. Erst beim Baden entdeckte ihre Mutter Tage später die Verletzung – eine Situation, die zeigt, wie riskant fehlende Schmerzsignale sein können (Love, 2018, VICE). (https://www.vice.com/de/article/die-familie-die-keinen-schmerz-spuert-marsili/?utm_source=chatgpt.com)
Die genetische Ursache wurde 2018 von Habib et al. im Journal Brain (https://academic.oup.com/brain/article/141/2/365/4725107?login=false) beschrieben: eine Punktmutation im Gen ZFHX2 führt dazu, dass Schmerzsignale nur stark abgeschwächt weitergeleitet werden. Capsaicin im Chili reizt normalerweise den Vanilloid-Rezeptor 1. Die Marsili-Familie spürt auch diesen Reiz nicht – ihnen fehlt das typische Brennen. Für sie bedeutet das: kein Schmerz, aber auch kein Warnsignal
Warum ist Wissen über Schmerzmanagement wichtig?
Wer versteht, wie Schmerz entsteht, kann ihn nicht nur ertragen, sondern aktiv beeinflussen.
Beispiel: Rückenschmerzen durch langes Sitzen. Wer weiß, dass Bewegungspausen helfen, kann gegensteuern. Schmerzmanagement bedeutet:
- Mechanismen hinter Schmerzen erkennen,
- Verstärker und Linderer identifizieren,
- Strategien entwickeln, um Beschwerden zu beeinflussen.
Die Forschung zeigt, dass Patient:innen mit Grundwissen über Schmerz besser Strategien entwickeln, um ihre Beschwerden selbst zu regulieren.
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Akuter Schmerz – dein Bodyguard
Stell dir vor, du schneidest beim Gemüseschneiden in deinen Finger. Dein Körper reagiert sofort: Du ziehst die Hand zurück, hältst inne, betrachtest die Wunde und entscheidest, was du als Nächstes tun musst. Genau so funktioniert akuter Schmerz – er ist ein intelligentes Warnsystem. Er sorgt dafür, dass du eine Verletzung nicht ignorierst und weitermachst, bis sie sich verschlimmert.
Bevor dein Gehirn einen Schmerz wahrnimmt, muss dieser Reiz zuerst erkannt und weitergeleitet werden. Genau das übernimmt die sogenannte Nozizeption. Der Begriff setzt sich aus nozi (Schaden) und recipere (aufnehmen) zusammen – er beschreibt also die Alarmfunktion des Körpers.
Nozizeption und NGF: Warum Schmerzreize manchmal stärker empfunden werden
Nozizeption ist also die Aufnahme und Weiterleitung von Schmerzreizen im Körper.
Nozizeptoren sitzen in Haut, Muskeln, Sehnen und Organen. Sie melden Bedrohungen ans Nervensystem, das Alarm schlägt. Manche Strukturen – wie Bandscheiben – haben keine eigenen Rezeptoren. Schmerzen entstehen dort erst, wenn umliegendes Gewebe reagiert.
Wie die Familie Marsili genetisch bedingt unempfindlich bei Schmerzen ist, kann es uns restlichen Mitgliedern der Schmerzfamilie sogar eher passieren eher empfindlicher zu werden. Studien zeigen, dass das eigentlich nozizeptionsfreie Bandscheibengewebe über Botenstoffe wie den Nervenwachstumsfaktor (NGF) empfindlicher werden kann, was Schmerzen verstärkt (Schmelz et al., 2019). (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31145219/)
NGF befindet sich sowohl im Nervensystem als auch im Gewebe, wird vor allem bei Gewebeverletzungen und Entzündungen ausgeschüttet, und wirkt über bestimmte Rezeptoren auf Schmerzfasern. Besonders in den Nervenknoten der Spinalnerven und im Rückenmark spielt er eine Schlüsselrolle bei der Schmerzverstärkung. Bei chronischen Erkrankungen wie Arthrose oder Rückenschmerzen bleibt der NGF-Spiegel länger erhöht, und verstärkt die Schmerzwahrnehmung.
Capsaicin aus Chili?: Warum Schärfe auch gegen Schmerzen helfen kann
Capsaicin, der Wirkstoff in Chili, reizt normalerweise den Vanilloid-Rezeptor (TRPV1) auf Schmerzfasern. Bei Menschen ohne Marsili-Mutation löst das ein brennendes Gefühl aus – ein typischer Schmerzreiz. Therapeutisch kann genau dieser Mechanismus genutzt werden:
- Kurzfristig: Capsaicin aktiviert die Schmerzfasern stark, sodass das bekannte Brennen entsteht.
- Langfristig: Durch diese Überstimulation werden die Schmerzfasern weniger empfindlich, einige Rezeptoren werden sogar vorübergehend „stillgelegt“.
- Praktische Anwendung: Hochdosierte Capsaicin-Pflaster oder -Cremes werden bei chronischen Nervenschmerzen, z. B. bei Juckreiz, Hauterkrankungen oder nervenassoziierten Schmerzen
Studien zeigen, dass diese Behandlung die Schmerzintensität reduzieren kann, ohne systemische Nebenwirkungen wie bei Tabletten zu verursachen (Frías et al., 2016). (https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6273518/).
Dein internes Schmerzmittel: das Endocannabinoid-System (ECS)
Das Endocannabinoid-System ist in der Forschung seit Jahrzehnten etabliert, in der Medizin teilweise bekannt, in der breiten Bevölkerung jedoch kaum. Meist wird es nur im Zusammenhang mit Cannabis erwähnt, obwohl es eine zentrale Rolle für Schmerz, Stress, Entzündungen und Emotion spielt.
Das ECS sorgt für Balance im Körper – eine Störung kann zu chronischen Schmerzen oder psychischen Problemen führen. Es ist ein komplexes Netzwerk, das in nahezu allen Bereichen des Körpers wirkt. Seine wichtigste Aufgabe: Gleichgewicht herstellen. Es reguliert nicht nur Schmerz, Stress und Entzündungen, sondern auch Emotionen wie Euphorie. Eine Dysfunktion kann weitreichende Folgen haben – von chronischen Schmerzen über Depressionen bis hin zu Schlafstörungen und sozialen Problemen.
Das System besteht aus zwei Hauptrezeptoren, die im ganzen Körper verteilt sind. Anandamid ist ein körpereigenes Cannabinoid (Endocannabinoid), das im Endocannabinoid-System wirkt. Es bindet an dieselben Rezeptoren des ECS’s wie THC aus der Cannabis-Pflanze.. Sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben, werden sie durch spezielle Enzyme wieder abgebaut.
Die Ausschüttung der Cannabinoide ist keinem Zufall unterlegen, sondern reagiert auf unseren Lebensstil (Armeli et al., 2021; Matei et al., 2023, Wei et al., 2015, Camberos-Barraza et al., 2024).(https://www.mdpi.com/2218-273X/11/6/790) (https://www.mdpi.com/1422-0067/24/3/1989) (https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4653148/) (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38542134/):
Faktoren, die die Aktivität des ECS erhöhen:
- Omega-3-Fettsäuren (z. B. in Leinöl, Walnüssen, Algen, manchen Fischen
- Regelmäßige Bewegung (z. B. Ausdauertraining bei 70–80 % der maximalen Herzfrequenz)
- Kakao, grüner Tee, Kurkuma (hemmen den enzymatischen Abbau)
- Meditation
- Stressmanagement (verringerte Cortisol-Ausschüttung)
- guter Schlaf
- soziale Interaktion (Oxytocin-Ausschüttug)
Faktoren, die die Aktivität des ECS verringern:
- Chronischer Stress & Cortisol
- Entzündungen & oxidativer Stress
- Omega-6-Überschuss (ungünstige Ernährung, verarbeitete Lebensmittel)
- Zucker & raffinierte Kohlenhydrate
- Alkoholmissbrauch
- Schlafmangel
- Medikamente(nmissbrauch)
Entscheidend ist: Dein Körper produziert Anandamid nur bei Bedarf und baut es anschließend wieder ab. Bewegung, bewusste Ernährung, Stressmanagement und soziale Freude sollten für ein reguliertes System alltägliche Begleiter sein. Nochmal: Diese Faktoren wirken schmerzhemmend.
In einer persönlichen Online-Beratung erarbeiten wir gemeinsam Strategien für dein individuelles Schmerzmanagement – von Bewegung über Ernährung bis hin zu Stressbewältigung. So lernst du, wie du Anandamid und andere körpereigene Ressourcen optimal für dein Wohlbefinden nutzt.
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Übrigens entsteht das “Runner’s High” nicht durch die Ausschüttung von Endorphinen, wie lange angenommen, sondern durch die Wirkung des ECS: Eine gute Mischung aus Angstlösung und Schmerzlinderung (Matei et al., 2023). (https://www.mdpi.com/1422-0067/24/3/1989)
Q&A: Noch mal kurz & knackig
Was macht die Marsili-Familie so besonders?
Sie spüren durch eine Genmutation kaum Schmerz – Warnsignale fehlen.
Warum ist Wissen über Schmerzmanagement wichtig?
Weil du Schmerzen besser verstehst, erkennst du Verstärker und kannst gezielt gegensteuern.
Was bedeutet Nozizeption?
Aufnahme und Weiterleitung von Schmerzreizen durch spezielle Rezeptoren.
Welche Rolle spielt NGF/Nervenwachstumsfaktor bei Schmerzen?
Es macht Nerven empfindlicher und verstärkt Schmerzen, vor allem bei Entzündung und chronischen Beschwerden.
Kann Capsaicin Schmerzen lindern?
Ja, nach anfänglichem Brennen werden Schmerzfasern weniger empfindlich – z. B. mit Pflastern oder Cremes.
Was ist das Endocannabinoid-System (ECS)?
Ein körpereigenes Netzwerk, das über Cannabinoide Schmerz, Stress, Entzündung und Emotionen reguliert.
Welche Faktoren beeinflussen das ECS?
Bewegung, Ernährung, Schlaf und soziale Kontakte stärken es – Stress und ungesunde Gewohnheiten schwächen es.
Entsteht das Runner’s High durch Endorphine?
Nein, es wird vor allem durch das Endocannabinoid-System ausgelöst.
Quellen
Habib, A. M. et al. (2018). A novel human pain insensitivity disorder caused by a point mutation in ZFHX2. Brain, 141(2), 365–376. DOI:10.1093/brain/awx326
Shayla Love, Die Familie, die keinen Schmerz spürt, VICE, 26. Juli 2018. (https://www.vice.com/de/article/die-familie-die-keinen-schmerz-spuert-marsili/)
Schmelz, M., Mantyh, P., Malfait, A. M., Farrar, J., Yaksh, T., Tive, L., & Viktrup, L. (2019). Nerve growth factor antibody for the treatment of osteoarthritis pain and chronic low-back pain: Mechanism of action in the context of efficacy and safety. PAIN, 160(10), 2210–2220. https://doi.org/10.1097/j.pain.0000000000001625
Frías, B., Olmo, C., Ribeiro, M. P. C., & Lafuente, A. (2016). Capsaicin: Molecular mechanisms, therapeutic role and potential use in pain management. Molecules, 21(6), 768. https://doi.org/10.3390/molecules21060768
Armeli, F., Bonucci, A., Maggi, E., Pinto, A., & Businaro, R. (2021). Mediterranean Diet and Neurodegenerative Diseases: The Neglected Role of Nutrition in the Modulation of the Endocannabinoid System. Biomolecules, 11(6), 790. https://doi.org/10.3390/biom11060790
Matei, D., Trofin, D., Iordan, D. A., Onu, I., Condurache, I., Ionite, C., & Buculei, I. (2023). The Endocannabinoid System and Physical Exercise. International Journal of Molecular Sciences, 24(3), 1989. https://doi.org/10.3390/ijms24031989
Wei, D., et al. (2015). Endocannabinoid signaling mediates oxytocin-driven social reward. PNAS. [PMCID: PMC4653148] doi: 10.1073/pnas.1509795112
Camberos-Barraza, J., et al. (2024). Sleep, Glial Function, and the Endocannabinoid System: Implications for Neuroinflammation and Sleep Disorders. International Journal of Molecular Sciences, 25(6), 3160. https://doi.org/10.3390/ijms25063160